Zhanna K.

Zhanna K., 40, Künstlerin, Kiev

Interview: Natalija Yefimkina, 26.2.2022

„Hallo Hallo!
Tja, was kann ich sagen?! Ich bin eine Künstlerin. Ich mache zeitgenössische Kunst. Zhanna Kadyrowa, 40 Jahre alt.
Morgen dürfen wir nicht nach draußen … sogar durchgehend nicht bis Montag. Es wird Fahndungen geben. Zahlreiche russische Saboteure sind nach Kiew eingedrungen – sie bringen irgendwelche Markierungen an, legen Spielzeuge gefüllt mit Sprengstoff ab. Morgen werden die Unsrigen das alles aufklären und aufräumen.

Die Luftabwehr ist ständig zu hören in der Stadt. Und gerade jetzt knallt es. Als wir Gina verabschiedeten, knallte es viermal. Und schon wieder ein lauter Knall. Und in der Stadt sind die Salven von Maschinengewehren zu hören – das ist schon sehr krass.

Ab heute Abend bis Montag 8 Uhr dürfen wir nicht rausgehen. Das ist die Lage. Wir sitzen bei quasi ausgeschaltetem Licht, das ist jetzt die Regel. Unsere Fenster sind mit Klebeband verklebt, damit uns Splitter nicht verletzen, falls sie plötzlich … und von außen ist alles mit Sperrholz verkleidet.

Wir leben im Keller – heute haben wir im Keller geschlafen. Und heute ist wirklich die erste Nacht, in der wir mal geschlafen haben. In den letzten zwei Tagen konnten wir überhaupt nicht schlafen, weil es so beängstigend war. Jetzt sind wir irgendwie schon daran gewöhnt und konzentrieren uns auf optimistische Nachrichten und wir hoffen. Ehrlich gesagt, haben wir uns irgendwie an die Explosionen gewöhnt. Die Angst beginnt zu schwinden und ich sehe, dass alle in den Krieg gezogen sind: auch Künstler und Musiker, meine Freunde. Viele Leute haben wirklich Maschinengewehre erhalten – auch die Dynamo-Fußballmannschaft – also tatsächlich viele Leute.

Sag mal, erinnerst du dich noch an die Band Boombox / Бумбокс?
Weiße Tapete, schwarzes Geschirr. Erinnerst Du dich nicht?

N.Y: Nein.
Mensch, das ist doch eine super berühmte Band. Kurz gesagt, die ganze Gruppe ist in den Krieg gezogen. In Kyiv erhalten normale Zivilisten derzeit keine Waffen ausgehändigt. Zunächst geben sie die an Leute mit militärischer Erfahrung aus, weil eine einfache Person ohne Erfahrung wenig nützt. Die wären nur Kanonenfutter. Wir brauchen kein Kanonenfutter, wir brauchen Taten! Deshalb bewaffnen sie vorrangig Menschen, die zumindest eine gewisse militärische Erfahrung haben. Oder dass die Person zumindest in der Armee war.


In unserem Haus haben wir einen kleinen Keller. Wir schlafen darin zu dritt und können unsere Beine nicht ausstrecken, weil der Raum etwas kürzer ist als wir, besonders für Denya ist das so. Aber er hat die Treppe umgebaut, die stört jetzt weniger. Aber heute waren wir im Keller, es ist alles, gottseidank, gutgegangen – es ist der einzig sichere Ort in unserem Haus.
Als wir noch oben geschlafen haben, sind wir bei jeder Explosion aufgesprungen und losgerannt. Jetzt gehen wir immer sofort in den Keller, da sind die Explosionen nicht so laut, wir haben dort immerhin von eins bis sieben oder acht Uhr geschlafen – genau kann ich es nicht sagen.


Ich weiß nicht einmal, wann wir aufgestanden sind. Wir waren sogar überrascht, dass wir Drei, meine Mutter, Denya und ich, genug Schlaf bekommen haben. Nun ja, wir haben eben geschlafen – so viel wie möglich.
Wir organisieren uns selbst, direkt nebenan wird eine neue Brücke gebaut. Heute geht ein selbstorganisierter Verteidigungstrupp durch die Gärten. Dort wurden Markierungen hinterlassen. Die Markierungen wurden angebracht, damit sich russische Truppen orientieren können. Alles wird markiert und beschrieben: hier ist Polizei, hier ist keine Polizei. Die haben ihre eigene Sprache, und sie bringen diese Zeichen überall in Kyiv an – auf dem Asphalt, auf Hausdächern, auf Brücken. Und die Aufgabe der Menschen – wenn sie diese Markierungen sehen – wir sehen sie alle im Internet – besteht darin, sie zu überdecken, mit Sand zu kaschieren. Wenn man sie einfach nur übermalt, sind sie unter UV-Licht noch sichtbar. Deshalb müssen wir sie einfach verschwinden lassen.
Heute war es in Chernighiv besonders hart – ein Kindergarten wurde komplett zerstört, mehrere Häuser, in Kyiv gab es Treffer in einem Wohnhaus.

N.Y: Ach, hörst du das alles? Kannst Du das sehen?


Ich höre davon, sehe es aber nicht. Kyiv ist weit weg, und groß. Aber ich kann sehr gut die verschiedenen Arten von Projektilen hören, die abgefeuert werden. Klar, es herrscht Krieg und die Unseren kämpfen! Niemand wird aufgeben. Tatsächlich ist es so, dass sogar die Künstler bereits zum Maschinengewehr gegriffen haben.


Verstehst Du? Niemand will russifiziert sein. Das können wir nicht ertragen. Wir haben doch eine ganz eigene Geschichte. Wir haben doch ein ganz anderes Selbstverständnis! Wir werden nicht in der Lage sein, in einem Polizeistaat zu leben.
Wenn man mich fragt, womit helfen, sage ich, dass die Haupthilfe darin besteht, dass ihr alle rausgeht! Denn das hier ist wirklich ein Ein-Mann-Krieg gegen die Ukraine und ihr Volk, nicht der Krieg der Russen gegen uns.


Nun sind alle Brücken vermint. Und es wird patrouilliert, weil es sehr viele Saboteure gibt. Im Zentrum wollen sie zum rechten Ufer durchstossen. Das rechte Ufer ist von strategischer Bedeutung, weil dort die Regierung sitzt. Das ist sozusagen das Zentrum der Verwaltung. Jetzt ist es strengstens verboten – wir haben eine Ausgangssperre, und wir können nicht rausgehen. Tagsüber gab es Meldungen, daß man nicht vom linken zum rechten Ufer wechseln kann. Früher war das möglich, aber jetzt sind alle Brücken vermint. Es gibt Checkpoints und sie werden bewacht. Das heißt, wenn du über die Brücke gehst, dann musst du wissen, dass auf dich geschossen wird.

N.Y: Hast du jemanden, der kämpft?
Ja, verdammt. Wir wissen überhaupt nicht, ob wir den Morgen erleben werden. Du wachst auf und – es ist ein Wunder – du bist aufgewacht. So war es heute. Wir wachten auf – es war schon hell. Nach zwei durchgewachten Nächten. Wir haben nicht schlafen können. Und natürlich das Pfeifen der Raketen, das man noch nie gehört hat. Jetzt sind wir bereits an Explosionen gewöhnt und wenn wir hören, dass die Explosion weit weg ist, gehen wir auch durch die Straßen, in unsere Gärten, rund ums Haus. Wir haben keine Angst, wenn es weit weg ist. Und wenn es näher kommt, rennen wir ins Haus.

N.Y.: Schrecklich, dass das jeden Tag ist! Wenn du sagst, dass ihr Tag für Tag überlebt.
Ja, weil wir es nicht wissen können. Die Leute, bei denen Raketen einschlagen, wussten es vorher auch nicht. Menschen saßen in Luftschutzbunkern, feucht und kalt, wie fürchterlich. Sie gebären in der U-Bahn. Hast Du die Meldung gesehen, dass nachts in der U-Bahn ein Baby geboren wurde?

N.Y.: Ja.
Furchtbar! Klar, wir haben immer noch relativ komfortable Bedingungen, weil wir einen eigenen Keller haben – klein, aber … Ich habe meine Mutter geholt, das macht es für mich leichter. Ich wollte auch meine Tante mitnehmen. Es ist mir nicht gelungen, am ersten Tag wollte meine Tante nicht mitgehen. Wir hatten vereinbart, dass sie dann am nächsten Tag kommen würde, aber wir konnten kein Taxi mehr rufen, weil der Alarm schon mit Gewalt heulte und die Autos nicht mehr fuhren. Und die Tante sitzt nun im Obolon Viertel fest. Jetzt sind alle Brücken blockiert, und wir können die Tante nicht zu uns holen, sie ist auch ein alter Mensch und jetzt allein.
Unser Morgen beginnt mit dem Anrufritual sind noch alle da?! Meine Schwester war heute mit dem Hund draußen spazieren und hörte ein lautes Geräusch – sie verstand zunächst gar nicht, was los war. Dann stellte sich heraus, dass es sich um eine Rakete handelte, die ein Wohnhaus traf. Genau dann. Sie nahm schnell den Hund und rannte zurück ins Haus. Der Hund hatte nicht einmal Zeit, zu kacken, so heftig war das. Wir wussten überhaupt nicht, was uns bevorstand. Wir lernen zum ersten Mal, wie wir in so einer Situation leben sollen – wir lernen aus unserer eigenen Erfahrung. Es gibt keine Anleitungen… Der erste Tag – war so schrecklich. Wir konnten es uns einfach nicht vorstellen, das Gehirn weigert sich, das zu glauben. Ich denke, so richtig glauben kann man es auch nicht.

N.Y.: Nicht auszuhalten!
Ja. Es ist unglaublich. Weißt du, es ist ein bißchen ruhiger geworden, wir sitzen hier fast schon normal, wir telefonieren. Fast wie ein Familientreffen. Weißt du, als meine Eltern zu mir kamen, versammelte sich die Familie, die Sonne schien, die Vögel sangen. Für eine Sekunde vergisst du, dann wachst du auf – und es ist furchtbar. Und du denkst verdammt…

Eigentlich ist unsere Gegend im Moment relativ sicher. Aber niemand weiß, was deren Pläne sind und von welcher Seite sie zuschlagen werden. Gestern gab es am rechten Ufer sehr starke Kämpfe. Und auf der linken Seite waren, weit von uns entfernt, Salven zu hören. Das heißt wir hörten Kämpfe von zwei Seiten – vom rechten und vom linken Ufer. Und jetzt im Zentrum der Stadt Maschinengewehrfeuer. In diesem Krieg sind Saboteuren zugange. Offenbar ziehen sie sich unsere Uniformen an und verkleiden sich. Sie ändern ihre Nummernschilder, sie haben einen Krankenwagen gestohlen, sie fahren in einem Krankenwagen, sie haben ein Polizeiauto gestohlen – das heißt, das sind die Leute, die für Russland arbeiten, um Kyiv zu erobern, verstehst Du? Aber hier sind alle gegen sie. Und hier ist nicht der Donbass, wo zumindest ein Teil der Bevölkerung Russland gegenüber loyal war. Dort wurde die Bevölkerung durch Propaganda einer Gehirnwäsche unterzogen. Zur Zeit wird dieses Szenario in Kyiv nicht funktionieren. Noch steht Kyiv.


Ich wollte nicht davonlaufen, weil ich meine Mutter nicht verlassen wollte. Gina war bereit zu gehen. Mittlerweile ist es unmöglich, zu gehen. Es gibt zwar kostenlose Züge, die nach Westen fahren. Aber der Andrang ist so groß. Es ist wie in der U-Bahn zur Hauptverkehrszeit. Menschen mit Kindern werden vorrangig weggebracht. Und zu Recht ist das so, dass sie Leute mit Kindern mitnehmen. Meine Tante und meine Schwester sagten auch, dass sie nirgendwo hingehen würden.
Kurz gesagt, ich weiß nicht, ob dieser Motherfucker jetzt die Atombombe hierher schmeißen wird, tja, das ist wohl unser Schicksal. Der Umzug nach Polen würde uns vor der Atombombe wohl kaum retten.


Alle sind dagegen, Natascha, nicht 99%, nicht 99,5. Wirklich alle! Die Ukraine ist jetzt so vereint. Wir haben die Erfahrung des Maidan. Der erste und der zweite. Wir sind vorbereitet, wir haben die Erfahrung der Solidarisierung – es hat sich bereits etabliert, dass wir einander unmittelbar helfen werden – wir werden uns koordinieren und alles tun, selbst wenn wir unser Leben und alles andere aufs Spiel setzen. Das ist etwas, das nicht vorhersagbar ist, wenn ein Krieg geplant wird. Das war wirklich nicht vorhergesehen. Und darin liegt sozusagen unsere Stärke verborgen. Zumindest jetzt sind wir sehr ergriffen durch die Tatsache, dass sich die ganze Welt uns angeschlossen hat, dass es auf der ganzen Welt Demonstrationen zu unserer Unterstützung gibt. Das ist unglaublich unterstützend. Und es ist sehr wichtig für uns.

Und als Erstes habe ich die Leute, die mir schreiben, wie sie helfen können, gebeten: Sprecht über uns, geht auf die Straße! Postet auf Facebook, klebt Sticker, sprecht einfach über uns! Das ist im Moment die beste Hilfe für uns.“

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