Sergey S., 39, Fabrikarbeiter, Kiew
Interview: Natalija Yefimkina, 26.2.2022
NY: Erzähl, erzähl ein bisschen über dich. Was passiert?
Ich heiße Serhiy. Ich liebe mein Vaterland, liebe Kiew, liebe mein Land. Ich bin jetzt in Kiew, in Bezirk Obolon’… Mit meinem 16 Jahre alten Sohn und mit dem Mädchen, das ich vor zwei Wochen bei einer Erstaufführung kennengelernt habe. Und vorgestern, als der Krieg ausbrach, habe ich ihr Heiratsantrag gemacht und sie hat „ja“ gesagt. (lacht) Ich würde ja zum Verteidigungspunkt vor Ort gehen, um eine Waffe zu bekommen. Aber ich habe nicht in der Armee gedient, man gibt mir keine Waffen momentan. Also bereiten wir Molotowcocktails vor, um den Okkupanten zu begrüßen, um ihm das Ganze hier maximal zur Hölle zu machen — dafür setze ich mich ein.
Das passiert mit mir heute. Und ich will nicht für die Ukraine sterben, ich will für sie leben!
NY: Bist du jetzt im Schutzkeller? Was ist deine Lage?
Im Keller haben wir gestern geschlafen, heute haben wir irgendwie beschlossen, nicht zu gehen. Es knallt, aber nicht in unserem Hof, ein bisschen weiter. Wir sitzen in unserer Wohnung, also Mietwohnung. Ich bin ursprünglich aus Tschernihiw Gebiet.
NY: Und welches Stockwerk, Serhiy?
11. Stockwerk
NY: Ziemlich hoch, oder?
Ja, passt. Falls die MTWs oder Tanken vorbeifahren, habe ich was um auf sie zu werfen, wenn auch nichts, um sie zu beschießen.
NY: Und wie ist die Laune so, machst du dir Sorgen?
Ich denke, dass ich dieses Stadium von Angst und Machtslosigkeit schon hinter mir habe. Ich habe jetzt Zorn, Aggression und Hass, der bewegt mich.
NY: Und was ist mit dem Kind, mit dem 16 jähriger?
Ihm ist es nicht geheuer. Ich, ach… Ich habe ein bisschen Angst um ihn, um das Mädchen, meine zukünftige Frau. Ja, darum habe ich Angst. Ich lerne sie durchzuleben, sie zu bewältigen.
NY: Und klappt es?
Klappt irgendwie. Wenn ich mit dir spreche, Natascha, dann klappt es, denke ich.
NY: Und was hast du heute vor, für den Abend?
Heute? Also, werde Kaffee trinken. Gott sei Dank, gibt es Internet, ich werde die Lage auf Internet über verschiedene Kanäle checken, die Lage im Land einschätzen, da es viel falsche Informationen gibt. Ich werde auch auf meine Seite posten, wo ich auch meine eigenen Lieder habe, also werde ich die Informationsfront unterstützen.
NY: Sag bitte, wo du arbeitest, wie alt bist du — ein bisschen über sich.
Ich bin 39 Jahre alt, ich bin offiziell bei DBK 4 angestellt. Das ist ein Werk für Eisen und Beton, ich arbeite als Bediener am Steuerungspult, nehme Baustoffe an: Zement, Schotter, Sand. Wenn man es philosofisch betrachtet, sind es künftige Häuser, künftiges Zuhause für viele Familien.
NY: Wolltest du nicht wegfahren?
Nein, ich habe mir nicht mal diese Option gelassen — zu fliehen. Wohin fliehen?
Natascha, das ist das Einzige, was keiner für kein Geld kaufen wird, keiner wird es wegnehmen, nie im Leben, mit keinen Waffen, mit keinen anderen Mitteln. Das ist das Einzige, was man uns, Ukrainern, nicht wegnehmen kann. Klar, gibt es auch unter Ukrainern, gibt es… Jede Nation hat Marginalen, die kaufen lassen können. Zum Glück gehöre ich nicht zu denen.
NY: Also, bleiben wir im Kontakt, du musst mir jeden Tag schreiben!
Ja, muss ich jeden Tag schreiben?
NY: Ja, ich mache Sorgen um dich.
So wurde es nicht abgesprochen.
NY: Schick mir noch ein Foto, mit etwas im Hintergrund.
Ich kann eins mit dem Militärpunkt im Hintergrund schicken, der uns keine Waffen geben konnte.
NY: Mach das.
Ok, habe mich gefreut.
NY: Küsse dich, tschüß
Ciao, ciao.