Julia, Lehrerin, Kiew
Interview: Natalija Yefimkina
„Hallo Julia!
Hallo Natascha!
J: Na, wie geht’s euch in Berlin?
N.Y.: Naja, wie uns hier geht ist nicht so wichtig, wichtiger ist: Wie geht es euch?!
Bei uns ist alles in Ordnung, also relativ in Ordnung. Wir hören Explosionen, die Luftabwehr ist aktiv.
Natürlich, ist es sehr schwierig. Ja, viele versuchen abzureisen, viele versuchen in irgendwelchen Dörfern auf dem Weg in den Westen zu verstecken.
Jemand wartet in der Nähe der Grenze. Eltern und Olya sind jetzt in Lwiw, aber dort herrscht auch eine große Unruhe.
Wir sind momentan hier [Kiewer Umland; Anm.] und werden auch bis auf Weiteres bleiben.
Denn: In einer Richtung ist die Brücke, um das Weiterrücken des Feindes zu verhindern, vermint und gesprengt worden, und auf der anderen Seite ist ein Wasserkraftwerk, das erobert worden ist.
Also nein, es ist nicht erobert worden, es wurde zum strategischen Objekt deklariert und seine ganze Umgebung abgesperrt.
Wir werden hier abwarten, denn noch leben wir hier unter akzeptablen Bedingungen, wir haben auch einen Keller.
Eigentlich sind alle diese Explosionen ziemlich weit weg: Weil zuerst siehst Du den Blitz des Raketeneinschlags und dann dauert es 20-25 Sekunden, bis der Knall hörbar wird. Das heißt, der Einschlag passierte irgendwo weiter weg, also in Kiew, in Trojeschina oder in Wyschhorod.
Naja eigentlich ist es tatsächlich doch sehr nah, aber jetzt zählt jeder Kilometer mehr als „weiter entfernt“.
Also ihr seid da bei Marina zu Hause?
Ja, ja, wir sind hier. Es gibt auch einen Keller hier, also sogar zwei Keller. Wir haben einige Vorräte, Elektrizität, Internet und Telefon — also recht gute Bedingungen.
Bis jetzt haben wir im Erdgeschoss geschlafen, doch wir haben was auch den Keller vorbereitet, Matratzen ausgelegt, Decken, weißt du, Trinkwasser deponiert, solche Sachen.
Letzte Nacht um 22 Uhr wurde der Lärm so stark, dass wir beschlossen haben, im Keller zu schlafen. Die Kinder und alle anderen haben sich schlafen gelegt, bis ich um zwei Uhr wieder hoch ging, weil mir klar wurde, dass die Kämpfe nicht ganz so nah sind,.
Aber das Schlimmste ist um 4, um 4-5 Uhr morgens?
Ja, aber eigentlich über den gesamten Tag und die Nacht, nur eben periodisch verteilt. Du kannst sowieso nicht normal schlafen — immer hörst du diese Explosionen und du weißt nicht, was passiert da genau und wo…
Es gibt einen Telegram-Kanal, der regelmäßig sehr aktuelle Fakten und Informationen verteilt. Artjom und Marina folgen vor allem dem Kanal aufmerksam, weil die TV-Nachrichten erst mit einiger Verspätung berichten.
Die Bekannte sind in alle Richtungen zerstreut, aber ich denke, dass bei ihnen auch alles in Ordnung ist.
Heute sind wir sogar etwas raus gegangen, eine kleine Runde drehen. Dann hat uns aber Borya gerügt.
Erinnerst du dich an Natascha, die Patentante meiner Kinder, mit langen blonden Haaren, so eine Frau?
Mhm.
Sie sind auch hier, in ihrem Haus, geblieben; aber das steht in Kiew, also sind sie ein bisschen näher [an den Kämpfen] und sie haben große Angst. Überall hört man den Lärm der Kämpfe, man sieht die Panzer.
Sie sind verzweifelt und fast in Panik: Sollen sie jetzt abreisen oder doch nicht? Sie wissen aber, dass wenn sie jetzt abreisen, dann können sie nicht wieder zurück. Niemand ist sicher, wohin man fahren und wie es weitergehen soll.
Und sie sitzen dort und sagen, dass man nicht rausgehen soll, weil die Truppen hier landen und es gefährlich ist.
Mittlerweile ist besser, sich zu verstecken. Also haben wir uns versteckt und warten darauf, dass alles aufhört.
Aber du willst wegfahren, oder? Du hast mir gerade geschrieben, dass…
Ich weiß es nicht, im Moment können wir nicht wegfahren.
Wir haben Angst fortzugehen, weil hier haben wir die passenden Bedingungen gefunden, wir haben Vorräte: Essen, Trinkwasser.
Und hier bei uns passiert ja auch nichts. Wir haben in der Nähe, also unmittelbar hier, keine — also es gibt ein Wasserkraftwerk, aber es gibt eben keine strategischen Militäreinrichtungen oder andere strategischen Ziele, außer eben das Wasserkraftwerk, das ein Angriffsziel werden könnte.
Ich habe Freunde in Petrowzy, ein Mitschüler von Danya zum Beispiel, da war die Nationalgarde im Einsatz und es kam zu heftigen Explosionen. Die Explosionen waren so stark, dass sie sich, Hände über dem Kopf, auf den Boden legen mussten. Deswegen sind sie auch sofort geflohen.
Andere Freunde, sie haben Eltern in Lwiw, haben sich zu ihnen auf den Weg gemacht und waren einen ganzen Tag unterwegs. Also um 5 Uhr hat der Krieg angefangen, sie sind um 9 Uhr los und waren erst einen Tag später in Lwiw, das man normalerweise in 5 Stunden erreichen kann.
Sie sind dort, aber dort haben sie auch keine Ruhe. Sie sind losgefahren, aber da wurde noch keine Mobilmachung angeordnet, noch kein Kriegszustand ausgerufen, also dachten sie auch, dass sie ins Ausland abhauen werden.
Und was ist mit der Schule?
Was ist mit der Schule? Meine Kollegen, als es am Morgen losging, haben sie es sofort realisiert… Elena, meine Direktorin, ihre Wohnung liegt [exponiert] im 23. Stock, die ist zusammen mit anderen Kolleginnen und Kindern dorthin gefahren, haben sich in den Keller begeben und dort ausgeharrt. Doch in der Nähe [der Schule] liegt der Militärflughafen Hostomel, der bombardiert wurde. Sie waren zwar im Keller, aber alles war sehr laut und deutlich zu hören, schrecklich. Auf dem Weg, auf dem wir unsere Kinder zum Tennis bringen, und auch auf der Straße neben der Schule fahren Kolonnen von Schützen- und Kampfpanzer. Es ist natürlich unheimlich.“