Igor

Igor, 36, Editor für Dokumentar- und Spielfilm

Interview: Natalija Yefimkina, 27.2.22

„Hallo!

Wo bist du? Hörst du mich?

Ja, ich höre dich. Ich bin in einem Bunker. In Kiew.

Niemand ist weggefahren!
Wenn alle wegfahren, bleibt nichts, wofür man kämpfen soll.

Igor!

Natascha, alles ist in Ordnung. Wir sind also alle in Sicherheit… die meisten von meinen Bekannten sind in Sicherheit.

Ich weiß, dass viele jetzt zurückfahren. Genau jetzt in diesem Moment fahren sie zurück. D.h. dass viele Familien, Ältere und Kinder in Sicherheit gebracht haben und jetzt fahren sie alle heim. Manche um das Brot und humanitäre Hilfe zu verteilen, die anderen, um Waffen in die Hand zu nehmen.

Ich habe dir doch geschrieben, was wir hier versuchen zu machen. So was wie eine Informationsfront. Eine Art Video-Batallion.

Das heißt – es ist genug an Material da, das alle sehen. Deswegen signalisiere ich allen, die ich kenne, dass sie bitte unmittelbar vor Ort drehen, um original footage zu bekommen
(Warum erstellen Sie diese Videos?)
Weil wir hier Videos an drei Fronten machen – das eine ist für das Aufrechterhalten unserer Moral, das andere – für die Information für den Westen und das dritte – um die Bots von Rogozhin zu bekämpfen. Irgendwas nach dem Motto – Information für die russische Öffentlichkeit. Und deswegen können alle diese drei Richtungen verschiedene Inhalte haben.

Momentan gehe ich eher gegen die Bots von Rogozhin vor. Ich sammle Videos mit den Einberufenen, Militärtechnik usw. Mein Freund, der hier mit mir zusammen im Spital ist, er sammelt Videos aus allen europäischen Städten mit all diesen Demos und Aktionen… wie kann man das nennen … Protesten, mit Aufrufen und ukrainischen Flaggen. Es ist alles dafür, um moralische Situation hier im Land zu verbessern, weil wir hier mit den Krankenschwestern übernachten und sie schimpfen auf Europa und NATO, wiederholen Infos der russischen Propaganda darüber, dass alle uns verlassen haben und alles zu spät ist.

Ja, das wissen wir! Und deswegen gehen wir gegen die Informationslage vor.

Pass auf, hier ist noch so eine eigenartige Sache – weder unsere noch russische Regierung die ganze Wahrheit sagt und wird sie auch nicht sagen. Weil hier in Kiew und in der Ukraine versucht man keine realen Kriegsmeldungen zu verbreiten, weil es auch viele Tote unter Ukrainer gibt und auch viele, die zufällig ums Leben kamen, unter anderem auch wegen eigener Schießerei, aber darüber wird nicht gesprochen, weil man versucht Panik zu vermeiden. Es ist schwierig objektiv die Lage einzuschätzen.

Also am Anfang, in den ersten drei Tagen vielleicht, hatte ich ganz schlimme Panikattacken. Ich glaube, alle hatten sie. Ich kann genau über mich sagen, dass man manchmal sich hinlegen möchte und nur weinen, weil man Angst hat und machtlos ist. Und dann mit der Zeit gewöhnst du dich einfach an diese Sirenen, an die Explosionen, an die irgendwo vorbeifliegenden Flugzeuge. Die meisten haben sich inzwischen daran gewöhnt. Du kannst den Gedanken an den wahrscheinlichen eigenen Tod inzwischen leichter hinnehmen.

Eigentlich, weiß ich nicht, kann man erforschen, wie sich das Mindset in dieser Zeit ändert.

Ein Freund von mir stellt grade so eine Art Kollage her, die alle diese Massenversammlungen in verschiedenen europäischen Städten darstellt, um einfach zu verstehen, was los ist. Man braucht Videomaterialien, die … Es sollen keine sprechenden Köpfe sein

Ich habe heute darüber nachgedacht, dass als es alles angefangen hat, wir hatten eine große Gruppe an Doku-Regisseure und niemand eine Kamera mitgenommen hat, um in der Metro oder im Bunker zu drehen, weil sie dachten, dass alle das machen werden.

Und jetzt nach dem drei Tage vergangen sind, haben wir überhaupt keine Videos. Eigentlich ist es sehr schade, weil das, was grade in den Bunkern und insbesondere in der Metro passiert, ist eine sehr interessante Atmosphäre. Es ist alle dermaßen anders, alle sind grade sehr einig / verbunden. Die Meinung, dass der Krieg alle – Aggressoren und die Opfer – verbindet, das ist alles so… Irgendwelche Iraner verteilen Essen. Unsere beruhigen die Afrikaner, weil sie beunruhigt sind. Ich weiß nicht, was sie sich so alles denken, sie sind höchstwahrscheinlich aus irgendeinem problemhaften Staat geflohen und in so eine Geschichte reingeraten sind.

Das Wichtigste jetzt ist, dass Leute nicht allein bleiben, allein mit eigenen Gedanken. Das ist so ein Zustand, wo man sich sehr wünscht unter Leuten zu sein.

Das ist bei mir der dritte Luftschutzraum. Die ersten zwei Nächte übernachtete ich in der Metro. In die erste Station habe ich meine Ex-Frau und ihr Kind gebracht. Sie wohnt in der Nähe von mir. Und ich war auch damit beschäftigt, sie in die Sicherheit zu bringen. In die zweite Station habe ich meinen Kumpel gebracht, der total frustriert war und wusste nicht, was er machen kann. Er brachte seine Schwester mit und wir kamen in die Metro während des Militäralarms. Und in der dritten Nacht – heute – kam ich zu einer Freundin von mir, um sie hier im Spital zu besuchen. Sie lag im Krankenhaus. Es hatte mit dem Krieg nicht zu tun, Und weil sie hier allein war, kam ich sie moralisch unterstützen.
Als wir hier waren, fing die Sperrstunde an, die zwei Tage dauert. Also sind wir hier geblieben.

Bist du jetzt also im Krankenhaus?

Ja, aber momentan sind hier keine Verletzten – momentan werden sie hier noch nicht eingeliefert.

(Stell dir bitte kurz vor)
Ich heiße Igor, ich bin 36 Jahre alt und Editor für Dokumentar- und Spielfilm. Ich habe keine Kinder

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